Freitag, 18. Dezember 2009

Vorher gehörst du ihm!

Die uns umgebende Kulisse zeichnet sich so klar ab, wie lange nicht mehr. Die kalte Luft frisst jeden Rest von Dunst und Wolken aus der Landschaft der letzten Tage. Der riesige Gletscher breitet sich um uns aus, wie ein gigantischer See aus Eis. Die steil und abstoßend aufragenden Sechs- und Siebentausender stehen in ihrer ganzen majestätischen Wucht um uns aufgereiht und scheinen unerreichbar, wie die Sonne selbst. Die unendliche Kraft, die sie ausstrahlen, verkehrt unsere eigene Kraft ins Lächerliche, völlig unbedeutende. Im wesentlichen herrscht Stille, nur unterbrochen von den gelegentlichen Geräuschen fallender Steine, die in der Nähe oder weiter entfernt aus den Wänden gelöst in die Tiefe fallen.

In solch eine Landschaft geht man ein. Man ist nicht einfach dort, sondern man ist Bestandteil des Ganzen und vom Gefühl her ein kurz aufblitzender Funke, eine belanglose Sequenz in der Unendlichkeit dieser Welt. Aber dennoch ist man ein Teil des Ganzen, einfach weil man nur mit der gesamten Umgebung leben kann. Wir können uns nicht aussuchen, ob es regnet, schneit, oder die Sonne scheint. Wir können uns auch nicht ins Auto setzen und einfach davon fahren, ja noch nicht mal der Helikopter kann uns holen, wenn die Bedingungen dieser Umgebung es nicht zulassen. Wir sind also mitten drin und reagieren wie Bestandteile auf die Veränderungen um uns herum.

Und weil wir spüren, dass wir mit unserer Anwesenheit ein kleines Stück dieser Unendlichkeit kosten können, sind wir hier. Es ist paradox, je größer die Macht der Umgebung ist, also die Gefahr und die Unerreichbarkeit der Gipfel, desto kleiner werden wir selbst und, und das ist das interessante, desto stärker leben wir. Es ist, als würde die gesamte eigene Lebensenergie auf ein Minimum zusammengepresst. Die Möglichkeit zum Scheitern, oder zum Tod, schafft also eine potentielle Verkürzung des eigenen Lebens und verdichtet dadurch die noch vorhandene Lebensenergie scheinbar auf den aktuellen Moment.

Vielleicht ist das ein Grund, auf Berge zu steigen, vielleicht aber auch nicht. Wir steigen auf die Berge, aber wir können nicht sagen warum wir es tun. Wir sehen vielmehr, dass wir nichts wissen. Wir spüren nur, dass uns etwas zieht, dass uns etwas leitet und das ist womöglich die Welt selbst, deren unentrinnbare Teile wir sind. Und wenn das so ist, gibt es eigentlich keine Gründe, solche Fragen zu beantworten. Für wen denn? Und was ändert es, wenn wir eine Antwort haben? Weil es aber so ist, dass wir Fragen stellen, brauchen wir nicht zu hinterfragen warum wir fragen. Es ist einfach so, die Ursachen für unser Tun sind da und die Fragen danach sind auch da. Und das genügt, Antworten entzaubern nur.

Unsere Rucksäcke sind nun fertig gepackt und wir sitzen also in der Abendsonne auf den Moränen des Basislagers auf dem 70 Kilometer langen Enilchekgletscher in Kirgistan und spielen Karten. In scheinbar greifbarer Nähe streckt sich die Nordwand des Pik Pobeda dreieinhalbtausend Meter vom Gletscher zum Welten entfernten Gipfel. Direkt vor uns liegen die Abbrüche von Pik Maxim Gorki und Chapajev und daneben, leicht verdeckt, ragt die perfekte Marmorpyramide des Khan Tengri in den schwarzblauen Himmel. Wie ein von Göttern errichtetes Monument beherrscht er die gigantische Kulisse. Die Rucksäcke sind gepackt, um hoffentlich dort oben anzukommen. Nach einem ersten Versuch in den letzten Tagen wollen wir heut Nacht zum letzten Mal aufsteigen. Das Basislager ist inzwischen fast leer und am Berg ist niemand mehr unterwegs. Der Herbst kündigt sich an, es fällt häufiger Schnee und die Temperaturen sinken, aber das Wetter zeigt sich im Moment noch einmal von seiner besten Seite. Für Paul, Basti, Knox und mich geht die Zeit hier oben zu Ende, wir haben dienlich unsere Kartierungsarbeiten in der Umgebung abgeschlossen um uns nun zum feierlichen Ende diesen Gipfel zu verabreichen.

Es wäre ein gelungener Abschluss, nach nun fast drei Monaten im Hochgebirge. Erst hatte ich mich mit anderen Freunden sechs Wochen in den peruanischen Anden herumgeschlagen um dann, nach einem einzigen Tag zu Hause direkt nach Kirgistan weiterzufliegen. Kurzum meine Lungen sind in Hochform, aber der Geist sehnt sich langsam aber bestimmt nach einer Phase der Ruhe und vor allem der Sicherheit. Auch aus diesem Grunde hat die Situation etwas feierliches, es wird nämlich keinen weiteren Aufstieg mehr geben.
Um die exorbitanten Gefahren des Südaufstieges so weit es geht zu vermeiden, brechen wir mitten in der Nacht auf, dann hält sich der Eisschlag noch in Grenzen. Hier in diesem schmalen Seitental sammelt sich das Eis von allen Seiten, die Seracs hängen überall und so weit oben, dass man sie kaum sehen kann. Was man aber sehr gut sehen kann, sind die Trümmer, die über Kilometer überall verteilt liegen. Das Eis zerschlägt schon hunderte Meter bevor es den Gletscher erreicht und überschwemmt so das ganze Tal mit tonnenschweren Eisbrocken. Wehe dem, der hier zur falschen Zeit unterwegs ist! Gelegentlich sind die Lawinen so groß, dass sie über mehrere Kilometer auf den Hauptgletscher ziehen und dann auch schon mal ganze Zeltlager wegspülen. Wir beeilen uns.

Am nächsten Tag erreichen wir die Schneehöhle am Sattel und einen Tag später stehen wir, zumindest zu zweit auf dem schönsten Gipfel des Tien Shan. Es ist so kalt, dass wir keine Pause machen können und so kalt, dass Basti mit Steifgefrorenen Füßen auf halber Grathöhe gerade noch rechtzeitig den Abstieg hinbekommt. Knox wartet gleich in der Schneehöhle auf uns. Bergsteigen ist nicht dieses kitschige Theater, bei dem nur Kameradschaft und Ehre eine Rolle spielen. Wenn die Umstände schwierig werden, ist schnell jeder allein.
Zurück in der Schneehöhle glauben wir uns in Sicherheit, wir waren oben und es geht bergab, aber in Wirklichkeit hat der Berg noch alle seine Fangarme bereit um uns in Sekundenschnelle ins Jenseits zu schicken.


Aber was ist der Tod?
Nichts was je über den Zustand des Tot-Seins gesagt wurde hat irgendwelche Beweise zur Grundlage, weil niemand schon einmal tot war. Es ist also müßig darüber zu philosophieren!
Was wir aber sicher sagen können, ist, dass der Tod immer die Beziehungen zu den lebenden Menschen beendet. Der Tod stellt also das Ende des Lebens dar, welches wir kennen.

Obwohl wir noch kraftlos und müde sind, beginnen wir schon bald nach Mitternacht in der engen Schneehöhle auf knapp 6000m unsere Sachen zu packen. Es muss sein, das enge Gletschertal ist zu gefährlich, die Bilder der Eistrümmer sitzen gut im Kopf und erst wenn wir dort durch sind, können wir sagen, dass wir es geschafft haben. Die klammen Schlafsäcke verschwinden in den Rucksäcken, der Kocher, die leeren Tüten von der Trockennahrung und die wenigen persönlichen Dinge werden dazu gepackt, dann treten wir nach draußen in die schneidende Kälte dieser Mondlandschaft.

Auch wenn es anstrengt, absteigen ist immer leicht. Man spürt, wie es wärmer wird, wie der Sauerstoffgehalt zunimmt, wie die Welt lebensfreundlicher wird und die Menschen näher kommen. Absteigen ist der Weg zurück ins Leben.
An Fixseilen rutschen wir durch die Nacht, durch die Bruchzonen des Gletschers. Als es hell wird sind wir am Ende des Trümmerfeldes, welches uns solchen Respekt eingeflösst hat. Es wird allerhöchste Zeit für eine Pause. Die letzte Anspannung hat uns verlassen, denn wir sind in Sicherheit. Das Gefühl ist herrlich, der Tag bricht an, wir kommen langsam zu Bewusstsein. Der Gipfel ist in der Hosentasche und ein Stück davon im Herzen und jetzt sind wir fast im Basislager, wo wir schlafen können und essen und trinken, bis der Helikopter uns holt.

Wir sitzen auf unseren Rucksäcken in der Morgensonne und blinzeln steil nach oben an die Wände des Chapajev, wo sich genau in diesem Moment eine Eislawine löst. Im Erleben ist es ein langer Weg vom Staunen übers Zweifeln zum blanken Entsetzen. Eine unendlich scheinende Hilflosigkeit zuckt wie ein beißender Schmerz durchs Gehirn. Die ganze Nacktheit der eigenen jämmerlichen Existenz wird in Sekundenbruchteilen klar. Und der Wert, den man dieser Existenz innewohnen glaubte, ist schlicht weg nicht mehr ersichtlich, alles war eine große Lüge.
So ist es also, dem Tod ins Auge zu sehen? Ein Trost bleibt, die Erkenntnis über die Härte der Welt. Für ein paar Sekunden liegt uns die Weltseele offen zu Füßen, welch ein grausig- schönes Geschenk!

Was ist also der Tod? Diese Frage bleibt noch offen, aber was ist das Sterben? Ein Stück zur Antwort auf diese Frage wurde uns heute klar:
Es ist, den Tod unausweichlich auf sich zukommen zu sehen und die damit verbundene Einsicht, dass die Welt sich genau so weiterdrehen wird, wie bisher. Die Welt schert sich einen Dreck darum, was mich bewegt. Die Verantwortung für mein Leben trage ich … und zwar ganz alleine.

Aber so schnell geben wir uns nicht geschlagen, wir rennen aus Leibeskräften den Gletscher hinunter, während Paul brüllt, wir sollen in eine Spalte springen. Es kommt aber zum Glück keine Spalte, dafür aber endlich das Nachlassen der donnernden Massen und kurz darauf die Eisstaubwolke, die uns mit Wucht überwalzt und uns als Schneemänner zurücklässt. Die Lawine war über uns zum liegen gekommen.

Wir sind kaum noch in der Lage, bergauf zurück zu unseren Rucksäcken zu laufen, das Adrenalin hat unsere letzten Reserven freigesetzt. Oben angekommen wartet Basti, der sich hinter einen Block gekauert hatte um aus der Nähe das Schauspiel zu erleben. Ein paar Eisbrocken rollten direkt an ihm vorbei.
Wir alle sind also noch da und jedem von uns bleibt eine Erinnerung, die eigentlich eine Vorschau ist.
Und es bleibt Stoff zum grübeln. Was ist der Tod?

Sokrates sagt:
„Eins von beiden ist das Totsein, entweder soviel als nichts sein, noch irgend eine Empfindung von irgend etwas haben, wenn man tot ist; oder, wie auch gesagt wird, es ist eine Versetzung und ein Umzug der Seele von hinnen an einen anderen Ort. Und ist es nun gar keine Empfindung, sondern wie ein Schlaf, in welchem der Schlafende auch nicht einmal einen Traum hat, so wäre der Tod ein wunderbarer Gewinn. ... Ist aber der Tod wiederum wie eine Auswanderung von hinnen an einen anderen Ort und ist das wahr, was gesagt wird, daß dort alle Verstorbenen sind, was für ein größeres Gut könnte es wohl geben als dieses?“
Aber Fragen genügen, Antworten entzaubern nur.

Quelle: Bergzeit.de - Blog

Axel

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