Guten Morgen! Als ich gegen 4:30 Uhr noch schlaftrunken nach
draußen trete, spüre ich einen ganz leichten Wind. Ich bin noch nicht im vollen
Besitz meiner Sinne, aber die Luft riecht gut heute früh. Es beginnt langsam zu
dämmern und am Himmel sind viele dicke Wolken zu sehen, sie ziehen gut sichtbar
über das Land. Eigentlich könnte es jeden Augenblick regnen, dennoch bleibt
eine gewisse Gelassenheit und der Genuss des Moments draußen unter freiem
Himmel, zu einer Zeit, zu der ich selten munter bin. Aha, denke ich mal wieder,
so schön kann das sein, früh am Morgen.
Etwas später stehe ich mit Joe unter der Wand. Es ist nun
etwas heller, aber noch immer dämpfen die Wolken, wie eine düstere Glocke das
Licht und die Geschwindigkeit aller Handlungen. Die Stimmung ist gut,
vielleicht etwas träge noch, zumindest im Geiste, aber gut und gefüllt mit
einem gewissen Maß an Vorfreude. Auch mit Respekt und einem Anteil
Ungewissheit, ohne die vieles im Leben seinen Reiz wohl verlieren würde, die
nicht selten Motor der Hoffnung ist und Inspiration für Neuentdeckungen in sich
birgt. Neben der Tatsache, dass wir hier gleich etwas Sport machen wollen, sind
wir auch auf der Suche nach Erfahrungen, nach einem Hauch Ästhetik, nach
Selbstüberwindung und nach Zusammenhalt.
Das Seil liegt bereit, am Gurt baumeln einige
Expresschlingen, ein paar Einzelkarabiner, mehrere Friends, um meine Schulter
hängen 2 genähte Bandschlingen, das wars. Mit den ungelenken Fingern lege ich
den Knoten zurecht, tausend mal gemacht, in routinierten, ruhigen Bewegungen,
dann tausche ich meine Schuhe gegen die Kletterschuhe, zwänge die Zehen in die
Spitze, nochmal schieben, links, rechts, sitzt!
Schon die ersten Klettermeter wollen mit Energie bewältigt
sein. Der Riss ist hier eng, die Hand passt nicht vollständig hinein, klemmt
aber. Für die Füße gibt es keinerlei Tritte, nur der parallele Riss steht zur
Verfügung, auch hier zu schmal um beherzt und stabil darin zu treten. Beim
Verdrehen des Fußes drückt sich die scharfe Risskante schon bei den ersten
Zügen dominant in die Zehenknochen. Diese ersten Meter erfordern quasi ein
aktives Belasten der Klemmstellen, um nicht abzufallen. Aufatmend stelle ich
fest, dass gleich über dem Boden die Rissbreite geringfügig zunimmt, so dass
ich schnell am ersten Haken in 5 Metern Höhe ankomme. Das ist schon verrückt,
die leichte Lethargie der frühen Morgenstunde wandelt sich in Sekunden zu
völliger Wachheit, Konzentration und Einsatzbereitschaft. Ich habe den Boden
verlassen und damit die Reise begonnen. Sicher, ich könnte jederzeit abbrechen
und irgendwo abseilen, aber dazu bin ich jetzt nicht mehr bereit, ich will es
jetzt wissen.
Kurz über dem Haken kommt ein Querband und damit endlich ein
Griff, aber dann geht die Kletterei sofort wieder in schmale Handrisskletterei
über, und auch hier wird es zunehmend angenehmer vor dem nächsten Haken in nun
insgesamt 10 Metern Höhe. Zwischendurch waren 2 Friends meine moralischen
Wegbegleiter, schwer zu legen aus der Klemmstellung, aber gut gegen die Angst
vor weiten Flügen, die hier vor dem 2.Haken sogar noch am Boden enden könnten.
Die dritte Etappe ist ähnlich, weitere 5 glatte Rissmeter,
mehr oder weniger zu eng um sie genießen zu können. Die Bewegungen werden jetzt
eingeschliffener, dafür aber die Schmerzen an den Füßen größer und die Haut auf
den Handrücken dünner. An einigen engen Passagen muss ich die Hand regelrecht
mit Gewalt in den Riss quetschen, um sie tief genug für eine Klemmposition zu
versenken. Puhhh! 3. Haken, und damit die Hälfte der knapp 30 Meter langen
Seillänge. Ich kann nicht mehr! Der folgende Riss ist so gemein, dass ich nur
durch zwischenzeitliches Stehen auf dem Haken an der Wand bleiben kann. Schnell
wieder einen Friend rein, durchatmen und weiter. Meine Kräfte nehmen ab, ich
muss sie gut einteilen, keine unnötigen Versuche machen, sondern die Hände gut
platzieren und beherzt weiterdrücken, nur keine Züge zurück! Joe ist aufmerksam
bei mir, er beobachtet genau meine Bewegungen und ahnt sofort, wenn ich im Seil
sitzen muss, oder schnell Schlappseil brauche um zu klippen. Ich ahne schon,
was er da unten denkt. Er wird sich sicher gerade fragen, was wir eigentlich
hier wollen und wie er aus der Nummer doch noch ungeschoren wieder davonkommt.
Es folgt der 4. Haken, dann der 5. Langsam, aber sicher
fühle ich mich ausgequetscht, die Hände brennen, die Arme werden schwach, der
Biss lässt nach. Und trotzdem, kurz vor dem Ende wartet ein besonders
undankbares Rissstück. Einfach zu eng! Die Hände schwitzen, dadurch rutschen
sie eher aus dem Riss, die Füße verweigern auch langsam die Endergebnisse
meiner grobmotorischen Signale und nach einigen Hängern in Friends klippe ich
den letzten Haken und habe kurz darauf die Qualen hinter mir. Ich muss mir
eingestehen, dass die Route nicht viel länger hätte sein dürfen. Ich bin aber auch
erleichtert, denn seit langem wollte ich hier einsteigen. Nun endlich hat sich
eine passende Terminlücke gefunden und mit Joe ein ebenso für dieses
außergewöhnliche Stück „Fels“ begeisterter Kumpel.
Auch er hat hier alle Hände voll zu tun, auch er will in der
Hälfte abbrechen, aber auch er kommt oben an. Etwas zerkratzt, ziemlich
entkräftet, aber zufrieden und erleichtert, mit jenem feinen Lächeln auf den
Lippen, das nicht dem Klugen gehört, sondern dem Glücklichen.
Nachdem wir beide wieder sicher am Einstieg zurück sind,
klatschen wir ab, packen unsere Sachen und laufen direkt über den Postplatz
rüber zur Bäckerei Möbius. Es ist jetzt 06:30 Uhr. Wir nehmen Platz, lassen uns
Milchkaffee und Kuchen servieren, während wir wild gestikulierend die entscheidenden
Klemmzüge rekapitulieren. Aus dem Fenster können wir es sehen, das leer
stehende Telekomgebäude, 30 Meter hoch, die Fassade von prächtigen Handrissen
durchzogen.
Ich trete vor das
Kaffee, spüre ein leichtes, nun schon deutlicheres frisches Lüftchen und denke
munter und voller Tatendrang ein zweites Mal: Guten Morgen! Die Sonne ist nun
zu sehen.
Quelle: Bergzeit.de - Blog
Quelle: Bergzeit.de - Blog
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