Donnerstag, 19. Juli 2012

Guten Morgen!

Guten Morgen! Als ich gegen 4:30 Uhr noch schlaftrunken nach draußen trete, spüre ich einen ganz leichten Wind. Ich bin noch nicht im vollen Besitz meiner Sinne, aber die Luft riecht gut heute früh. Es beginnt langsam zu dämmern und am Himmel sind viele dicke Wolken zu sehen, sie ziehen gut sichtbar über das Land. Eigentlich könnte es jeden Augenblick regnen, dennoch bleibt eine gewisse Gelassenheit und der Genuss des Moments draußen unter freiem Himmel, zu einer Zeit, zu der ich selten munter bin. Aha, denke ich mal wieder, so schön kann das sein, früh am Morgen.

Etwas später stehe ich mit Joe unter der Wand. Es ist nun etwas heller, aber noch immer dämpfen die Wolken, wie eine düstere Glocke das Licht und die Geschwindigkeit aller Handlungen. Die Stimmung ist gut, vielleicht etwas träge noch, zumindest im Geiste, aber gut und gefüllt mit einem gewissen Maß an Vorfreude. Auch mit Respekt und einem Anteil Ungewissheit, ohne die vieles im Leben seinen Reiz wohl verlieren würde, die nicht selten Motor der Hoffnung ist und Inspiration für Neuentdeckungen in sich birgt. Neben der Tatsache, dass wir hier gleich etwas Sport machen wollen, sind wir auch auf der Suche nach Erfahrungen, nach einem Hauch Ästhetik, nach Selbstüberwindung und nach Zusammenhalt.

Das Seil liegt bereit, am Gurt baumeln einige Expresschlingen, ein paar Einzelkarabiner, mehrere Friends, um meine Schulter hängen 2 genähte Bandschlingen, das wars. Mit den ungelenken Fingern lege ich den Knoten zurecht, tausend mal gemacht, in routinierten, ruhigen Bewegungen, dann tausche ich meine Schuhe gegen die Kletterschuhe, zwänge die Zehen in die Spitze, nochmal schieben, links, rechts, sitzt!

Schon die ersten Klettermeter wollen mit Energie bewältigt sein. Der Riss ist hier eng, die Hand passt nicht vollständig hinein, klemmt aber. Für die Füße gibt es keinerlei Tritte, nur der parallele Riss steht zur Verfügung, auch hier zu schmal um beherzt und stabil darin zu treten. Beim Verdrehen des Fußes drückt sich die scharfe Risskante schon bei den ersten Zügen dominant in die Zehenknochen. Diese ersten Meter erfordern quasi ein aktives Belasten der Klemmstellen, um nicht abzufallen. Aufatmend stelle ich fest, dass gleich über dem Boden die Rissbreite geringfügig zunimmt, so dass ich schnell am ersten Haken in 5 Metern Höhe ankomme. Das ist schon verrückt, die leichte Lethargie der frühen Morgenstunde wandelt sich in Sekunden zu völliger Wachheit, Konzentration und Einsatzbereitschaft. Ich habe den Boden verlassen und damit die Reise begonnen. Sicher, ich könnte jederzeit abbrechen und irgendwo abseilen, aber dazu bin ich jetzt nicht mehr bereit, ich will es jetzt wissen.

Kurz über dem Haken kommt ein Querband und damit endlich ein Griff, aber dann geht die Kletterei sofort wieder in schmale Handrisskletterei über, und auch hier wird es zunehmend angenehmer vor dem nächsten Haken in nun insgesamt 10 Metern Höhe. Zwischendurch waren 2 Friends meine moralischen Wegbegleiter, schwer zu legen aus der Klemmstellung, aber gut gegen die Angst vor weiten Flügen, die hier vor dem 2.Haken sogar noch am Boden enden könnten.

Die dritte Etappe ist ähnlich, weitere 5 glatte Rissmeter, mehr oder weniger zu eng um sie genießen zu können. Die Bewegungen werden jetzt eingeschliffener, dafür aber die Schmerzen an den Füßen größer und die Haut auf den Handrücken dünner. An einigen engen Passagen muss ich die Hand regelrecht mit Gewalt in den Riss quetschen, um sie tief genug für eine Klemmposition zu versenken. Puhhh! 3. Haken, und damit die Hälfte der knapp 30 Meter langen Seillänge. Ich kann nicht mehr! Der folgende Riss ist so gemein, dass ich nur durch zwischenzeitliches Stehen auf dem Haken an der Wand bleiben kann. Schnell wieder einen Friend rein, durchatmen und weiter. Meine Kräfte nehmen ab, ich muss sie gut einteilen, keine unnötigen Versuche machen, sondern die Hände gut platzieren und beherzt weiterdrücken, nur keine Züge zurück! Joe ist aufmerksam bei mir, er beobachtet genau meine Bewegungen und ahnt sofort, wenn ich im Seil sitzen muss, oder schnell Schlappseil brauche um zu klippen. Ich ahne schon, was er da unten denkt. Er wird sich sicher gerade fragen, was wir eigentlich hier wollen und wie er aus der Nummer doch noch ungeschoren wieder davonkommt.

Es folgt der 4. Haken, dann der 5. Langsam, aber sicher fühle ich mich ausgequetscht, die Hände brennen, die Arme werden schwach, der Biss lässt nach. Und trotzdem, kurz vor dem Ende wartet ein besonders undankbares Rissstück. Einfach zu eng! Die Hände schwitzen, dadurch rutschen sie eher aus dem Riss, die Füße verweigern auch langsam die Endergebnisse meiner grobmotorischen Signale und nach einigen Hängern in Friends klippe ich den letzten Haken und habe kurz darauf die Qualen hinter mir. Ich muss mir eingestehen, dass die Route nicht viel länger hätte sein dürfen. Ich bin aber auch erleichtert, denn seit langem wollte ich hier einsteigen. Nun endlich hat sich eine passende Terminlücke gefunden und mit Joe ein ebenso für dieses außergewöhnliche Stück „Fels“ begeisterter Kumpel.

Auch er hat hier alle Hände voll zu tun, auch er will in der Hälfte abbrechen, aber auch er kommt oben an. Etwas zerkratzt, ziemlich entkräftet, aber zufrieden und erleichtert, mit jenem feinen Lächeln auf den Lippen, das nicht dem Klugen gehört, sondern dem Glücklichen.

Nachdem wir beide wieder sicher am Einstieg zurück sind, klatschen wir ab, packen unsere Sachen und laufen direkt über den Postplatz rüber zur Bäckerei Möbius. Es ist jetzt 06:30 Uhr. Wir nehmen Platz, lassen uns Milchkaffee und Kuchen servieren, während wir wild gestikulierend die entscheidenden Klemmzüge rekapitulieren. Aus dem Fenster können wir es sehen, das leer stehende Telekomgebäude, 30 Meter hoch, die Fassade von prächtigen Handrissen durchzogen.

Ich trete vor das Kaffee, spüre ein leichtes, nun schon deutlicheres frisches Lüftchen und denke munter und voller Tatendrang ein zweites Mal: Guten Morgen! Die Sonne ist nun zu sehen.

Quelle: Bergzeit.de - Blog

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