Freitag, 27. November 2009

Flaute...

Eine solche scheint ja momentan zu herrschen - wie sonst lässt es sich erklären dass diese Seite nur mehr ein Fragment im Nihil Novi des www zu sein scheint...

Nun denn, wenn schon nichts nennenswertes passiert, dann muss halt die Fiktion her halten - hier mal ein Versuch der Zeitüberbrückung...


Es gab nur noch das Hier und Jetzt. Zug um Zug, Bewegung für Bewegung arbeitete er sich nach oben. Wofür oder warum spielte schon lange keine Rolle mehr; er ließ seinen Körper einfach ausführen was irgendeine verborgene Schaltzentrale seines vernebelten Hirns ihm befahl. Aber gab es diesen obskuren Steuerungsmechanismus überhaupt und wenn ja, funktionierte er noch fehlerfrei oder hatte er sich schon vor langer Zeit von jeglicher Art der Steuerung und damit Kontrolle losgesagt und funktionierte nur mehr mechanisch? Vielleicht tat er instinktiv auch nur das was er immer getan hatte, was er über all die Jahre hinweg perfektioniert hatte – das was er verstand…
Wie lange ging das jetzt schon so, er hatte jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren, er wusste es nicht, welche Rolle spielte es auch. Und doch, allmählich kam das Bewusstsein zurück, und damit die Erkenntnis dass er schon recht lange am Stück im Anstieg begriffen war und er mehr als eine ganze Seillänge zurückgelegt haben musste. Das wiederum hieß dass sie schon seit geraumer Zeit parallel klettern mussten. Sich dessen bewusst erschien ihm das dennoch irgendwie unwahrscheinlich.
Das Gelände war nicht gerade leicht, um nicht zu sagen schwer, und schließlich hatten sie dies nicht vereinbart… Sie hatten doch immer alles ganz genau vereinbart. Auch wenn dies schon lange nicht mehr notwendig war – Sie hatten ein paar wenige eindeutige Seilkommandos und wenn nötig Seilzugkommandos, aber eigentlich verstanden Sie sich blind. Er wusste dass diesmal etwas anders war, aber sein Verstand war nicht in der Lage zu begreifen was.
Den Zustand in dem er sich mehr und mehr befand konnte man mittlerweile als durchaus transzendent bezeichnen, möglicherweise auch schizophren – Fakt war dass er bis auf wenige Momente jegliche Kontrolle über sein Handeln verloren hatte – er konnte sich selber dabei zusehen wie er einen mehr oder minder komfortablen Standplatz herrichtete, wie er nachdem er in penibler Feinarbeit zwei Knifeblades in den kompakten, mit einer hauchdünnen Eisglasur überzogenen Fels getrieben hatte, diese durch eine Schlinge verband, seine alte Stichplatte darin einhängte, das Seil einlegte und nachholte.
Wohl wissend, oder mehr ahnend, dass er nichts zu sagen brauchte. Langsam, fast meditativ holte er Seil ein, immer in einer Geschwindigkeit die sich in hunderten, wenn nicht gar tausenden von Touren zwischen ihnen eingespielt hatte. Weder hätte der eine, noch der andere zu rufen brauchen dass er mehr Seil benötigte oder hätte er sich über ein zu straffes Seil beschweren müssen – so etwas gab es nicht. Es war nicht klar ob er den Unterschied im Widerstand zum Seilpartner spürte, jedoch hatte er es während der ganzen Zeit des Sicherns vermieden nach unten zu schauen, und so kam es, ohne dass er schlussendlich doch nach unten zu schauen brauchte, dass mit den letzten einzuholenden Metern des Seiles, auch die Klarheit kam, die Klarheit und die Gewissheit dass er ein Ende ohne Knoten darin einholte, dass er ein Seil ohne Seilpartner nachsicherte… Und er wunderte sich auch nicht darüber, es erschien ihm alles ganz logisch. Als wäre es das normalste der Welt in solch einer großen Wand mit aller Seelenruhe ein Seil ohne Kletterer daran nachzuholen.
Mit einem Schlag offenbarte sich ihm alles – die ganze Last die er, ohne dass er es wusste, bis zu diesem Zeitpunkt auf seinen Schultern getragen hatte, konnte er, als wäre ein Schalter umgelegt worden, von einem auf den anderen Moment einfach von sich werfen. Plötzlich wusste er wieder dass sie vor kurzem erst hier gewesen waren, hier in ihrer Wand, der Wand die sie gemeinsam viele Male über die verschiedensten Routen durchstiegen hatten. Und er sah ihn auch wieder – jenen surrealen Moment in welchem er in die Augen des Freundes blickte, welche sich in rasender Geschwindigkeit von ihm entfernten. An das Danach hatte er keine Erinnerungen mehr. Er wusste nicht wie viel Zeit seit jener schicksalhaften Tour tatsächlich vergangen war, noch was damals tatsächlich geschehen war und wie er danach überhaupt wieder zurück fand. Er wusste ja nicht einmal ob er überhaupt, seitdem er einst die Berge als Zufluchtsort fand, im Geiste je wieder aus diesen zurückgekehrt ist? – Zurückgekehrt – zurück wohin – nach Hause? Er betonte diese Worte ganz bewusst, langsam, Buchstabe für Buchstabe, und trotzdem blieb ihm deren Bedeutung weiterhin verschlossen; er verstand es einfach nicht, er war in diesem Augenblick wie ein Kind, welches ein Wort vielleicht aussprechen kann, dessen Bedeutung sich ihm aber noch entzieht. Es klang geradezu komisch in seinen Ohren: „Z-U-H-A-U-S-E“…
- Was war das, wo war das und war der Mensch tatsächlich dafür bestimmt einen Ort der diese Bezeichnung tragen könnte zu kennen? Viele Diskussionen hatte er diesbezüglich geführt. Andere hatten versucht es ihm zu erklären, ihm ihre eigene, zivilisatorisch geprägte, Sichtweise nahe zu bringen. Und dennoch, er hatte es nie verstanden und er wollte es auch nicht, zumindest nie in ihrem Sinne, er konnte Rollrasen und Lattenzäunen nichts abgewinnen, er verspürte mehr Unwohlsein in einem der riesigen Konsumtempel in welche sie mit Vorliebe strömten, denn auf kleinen Kanten und Vorsprüngen irgendwo weit draußen. Sie hatten oft gemeinsam solche Diskussionen geführt und sich dabei mit Vorliebe über all die Blender, Möchtegerns und Anpässlinge ausgelassen und lustig gemacht – mit Verachtung haben sie auf den Rest der Welt geblickt und sich ihr dabei stets enthoben gefühlt.
Jetzt im Nachhinein ward ihm klar dass sein Freund und Seilpartner nur konsequent einen – ihren – Weg zu Ende gegangen ist… Und diese Klarheit und die Gewissheit dass auch er diesen Weg zu Ende gehen würde, dass all die Angst, Verwirrung, Verzweiflung, aber auch die überschäumende Freude und das Gefühl unsterblich zu sein, welches sie so oft empfunden hatten, nur Marksteine auf dem einzigen für sie in Frage kommenden Weg waren, ließ ihn sich aus seinem provisorischen Standplatz aushängen und ruhig und bestimmt die nächsten Züge machen…